Lesertest zu Terranigma (Super Nintendo)
Terranigma – Eine verkannte Perle?

„Die Schöpfungsgeschichte auf dem Super Nintendo“

„Unser Planet besitzt zwei Seelen. Ein äußeres und ein inneres Antlitz. Eine Licht- und eine Schattenseite. Millionen Jahre nach der Geburt des Planeten wurden Wachstum und Verfall zu zwei Seelen. Auf der Lichtseite entstand neues Leben. Die Schattenseite erstarrte im ewigen Eis. Die Lichtseite erschuf neues Leben. Alles entwickelte sich prächtig. Angst und Haß beherrschten die Schattenseite. So entstanden Gut und Böse.“ – So die Einleitung und Vorgeschichte von Terranigma.

Vorab eine Anmerkung: Mit „Original“ ist in der Regel die englischsprachige und nicht die japanische Fassung gemeint. Diese dürfte der Japanischen aber sehr nahe kommen.

Anno 1996 erschien in Deutschland eines der letzten Spiele für den Super Nintendo. Terranigma wurde in einer überdimensionalen Schachtel inklusive Spieleberater veröffentlicht, wie schon Secret of Evermore und andere zuvor. Auch wenn dieses Spiel innerhalb der Fangemeinde der 16-Bit-Generation recht bekannt ist, so konnte es nie zu dem Ruhm eines Secret of Mana oder gar Zelda gelangen. Das mag daran liegen, dass es nicht in den USA erschienen ist und dass der Hersteller Enix (Dragon Quest) in westlichen Gefilden nicht so vielen ein Begriff ist, zumindest im Vergleich zu den Final-Fantasy-Machern Square (mittlerweile haben ja die beiden Firmen bekanntlich zu Square-Enix fusioniert). Doch Tenchi Sôzô, wörtlich übersetzt „Erschaffung von Himmel und Erde“, wie es im japanischen Original heißt, ist nicht das erste Quintet-Werk im Vertrieb von Enix, das in Europa erschienen ist. Davor gab es Actraiser 1 und 2, Soul Blazer und das bekanntere Illusion of Time, das in den USA Illusion of Gaia heißt. Tatsächlich sollte Terranigma ursprünglich hierzulande Illusion of Time 2 heißen, doch man entschied sich glücklicherweise dagegen. Auch wenn beide zur Soul Blazer-Reihe gehören und einige Apekte gemein haben, sind es zwei völlig verschiedene Spiele.

Bei Terranigma handelt es sich um einen Action-Adventure-RPG-Mix: Es gibt eine Karte, auf der man von Stadt zu Stadt zieht, viele Charaktere und Orte, jede Menge Waffen, Rüstungen und Gegenstände, eine komplexe Geschichte sowie Erfahrungspunkte und Level zum Aufsteigen.

Geschichte – Teil 1

In einer postapokalyptischen Welt beginnt das Abenteuer im Dorf Krysta der Unterwelt, wo unser Held Ark von seiner Freundin Melina wachgeküsst wird. Später öffnet dieser in seinem Keller eine geheimnisvolle Kiste und befreit dadurch ein Kirby-ähnliches Wesen, das auf den Namen Fluffy hört und ihm sein Schicksal offenbart: Ark muß die Oberwelt und ihre Lebewesen aus der Versenkung retten. Nachdem man in den fünf Türmen der Unterwelt Aufgaben bestanden hat und somit die fünf entsprechenden Kontinente aus den Tiefen des Ozeans an die Oberfläche emporsteigen läßt, fängt die Geschichte erst richtig an – an der Oberfläche gilt es der Reihe nach Pflanzen, Vögel, Tiere und schließlich die Menschheit zu befreien. Die Oberwelt repräsentiert unsere Welt, wie wir sie kennen, wer sich also geografisch nicht auskennt, kann vielleicht noch etwas dazulernen. Viele Orte haben allerdings entweder leicht geänderte Namen, wie Neo Tokyo, Storkolm, etc., oder ganz neue (Loire ist hier kein Fluss, sondern Frankreichs Hauptstadt Paris). Lasst euch aber nicht durcheinanderbringen dadurch, dass Europa im Westen und Amerika im fernen Osten liegt – bei den Japanern liegt ihr Land auf Landkarten in der Weltmitte.

Grafik

Die Grafik gehört zum Besten, was es auf dem Super Nintendo gibt: Die Unterwelt zeichnet sich durch eine Art „scrollende“ Darstellung aus und trotz der bunten Oberwelt wirkt das Ganze erwachsener als bei anderen Spielen. Am erstaunlichsten sind aber die, wenn auch wenigen, 3D-artigen Zwischensequenzen, die zum Beispiel nach der Rettung eines Kontinents eingeblendet werden. Die Zaubersprüche sind auch sehr ansehnlich. Ansonsten wird in Städten und Verliesen wie üblich auf die isometrische Sicht zurückgegriffen.

Sound

Musikalisch wird viel Abwechslung geboten, von lustigen Dudel-Melodien zum Mitsummen bis zu schönen, stimmungsvollen Stücken (man achte auf die Unter- und Oberweltmusik). Die Soundeffekte sind passend und geben ebenfalls keinen Grund für Kritik. Nur eine Sache kann den einen oder anderen nerven: das Knallgeräusch, das zu hören ist, wenn man gegen eine Wand stößt, was beim Laufen natürlich oft passiert.

Gameplay

Und nun zum Gameplay: Als Item-Box dient eine Kiste, in die man per Select-Taste „hineinschlüpft“ und von Kammer zu Kammer wechselt. So lassen sich Rüstungen, Waffen und Gegenstände verwalten und Optionen einstellen. Die Kämpfe gestalten sich sehr dynamisch und machen mehr Spaß als zum Beispiel bei Zelda III. Es gibt fünf verschiedene Angriffe, die je nach Gegner mehr oder weniger Schaden anrichten und nach kurzer Eingewöhnungszeit sehr flott von der Hand gehen. Magieangriffe gibt es auch, werden allerdings eher selten eingesetzt, da der Kampf mit der Waffe schneller funktioniert.

Und sonst?

Ein gutes Action-Adventure braucht natürlich auch Sidequests und Minispiele. Und Terranigma hat so viele zu bieten wie nur wenige Konkurrenten. Der Höhepunkt ist der originelle Städtebau. „Städtebau? Da spiel ich lieber Sim City!“ Nein, man kann es nicht vergleichen, denn hier gestaltet sich das Ganze wesentlich einfacher und passender zu diesem Genre: Wenn man die richtigen Entscheidungen trifft (z.B. bei der Präsidentenwahl) und Gegenstände von einem Ort zum anderen bringt, kann man aktiv dazu beitragen, dass sich insgesamt fünf Städte weiterentwickeln (es gibt natürlich mehr, aber nur diese verändern sich). Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten: So kann man zum Beispiel in der dritten Stufe der französischen Stadt Loire sogar ein eigenes Appartement mieten und mit Möbeln einrichten. Ab sofort heißt diese Wohnung dann Heim. Noch ein Tip: Sprecht im bewohnten Neo Tokyo mit den Mülltonnen! Erwischt ihr die richtige, dann entdeckt ihr den Gag des Spiels schlechthin!

Der Schwierigkeitsgrad ist wie bei Action-Adventures üblich auf mittlerem Niveau. Ein paar Mal müßt ihr vielleicht länger überlegen was zu tun ist, und im spanischen Schloß euch eventuell auf mindestens Level 25 hochkämpfen, doch praktisch ist das Spiel ohne Lebensverlust schaffbar.

Die Spielzeit beträgt beim ersten Durchspielen über 20 Stunden. Rast man mit dem Lösungsbuch in der Hand dem Ende entgegen (was allerdings unsinnig wäre), ist es auch in der halben Zeit zu schaffen.

Geschichte – Teil 2

Kommen wir zurück zur Story: Denn die epische Geschichte ist trotz der anderen großartigen Elemente und Einfälle der eigentliche Trumpf des Spiels! Mit der Zeit, nachdem man die Welt befreit hat, erlebt man mit – oder trägt sogar dazu bei – wie die großen Errungenschaften der Menschheit, die für uns heute selbstverständlich sind, entdeckt werden. Da wäre das Telefon, die Glühlampe und das Flugzeug, nur um ein paar zu nennen. Ja, sogar eine offensichtliche Anspielung auf eine beliebte Fast-Food-Kette gibt es.

Apropos Anspielungen: Davon gibt es jede Menge, unter anderem auf die Atombombe (oder Tschernobyl) und andere Ereignisse sowie viele wichtige Personen der Weltgeschichte (siehe weiter unten). Man findet vereinzelt sogar mehr oder weniger offensichtliche Kritik an Gesellschaft, Politik (Stichwort Planwirtschaft vs. Kapitalismus), Umweltzerstörung, etc. Wer möglichst alles sehen und verstehen möchte, was das Spiel zu bieten hat, sollte es entweder mehrmals durchspielen und dabei verschiedene Antworten auf die Fragen geben, oder einen ausführlichen Walkthrough aus dem Internet benutzen (idealerweise beim zweiten Durchspielen). So kann man Erklärungen zu den ganzen Namen der Personen und Städte finden und was man unter Umständen verpaßt, wenn man die „falschen“ Entscheidungen trifft.

Und das alles ist nur die Neben-Story. Auch die eigentliche Geschichte unseres Helden begeistert mit zahlreichen Wendungen und Ereignissen, bei denen man nicht sicher sein kann, wer nun Feind und wer Freund ist. Die Handlung ist wesentlich erwachsener und anspruchsvoller als bei anderen derartigen Spielen; da gibt es, nur um ein paar Beispiele zu nennen, die Dreiecksbeziehung der Protagonisten oder den König, der die Bewohner eines ganzen Dorfes umbringen läßt. Einmal sogar… nein, zuviel wird nicht verraten, ihr müßt es schon selbst erleben! Nur noch so viel: Das Ende (haltet bis zum Schluss der Credits durch) hat es auch in sich!

Man spricht Deutsch

Noch ein Wort zur Übersetzung: Hier hat Nintendo sicherlich nicht seine beste Arbeit abgeliefert. Es gibt viele Namensänderungen, die besonders bei den Erfindern keinen Sinn ergeben (siehe weiter unten). Der Hauptcharakter wurde nicht davon betroffen, allerdings einige seiner Freunde, wie Melina (im Original Elle) und Fluffy (Yomi). Dazu gibt es noch einige unverständliche oder geänderte Gespräche: Die Frau im Zelt der Quatros zum Beispiel bittet euch im Original um eine Massage und sagt nicht wie in der deutschen Fassung: „Soll ich für dich tanzen? Du bist zu jung dafür!“ Massiert bzw. drückt sie trotzdem mal, und wenn ihr euch eine fangen wollt, auch von vorne! Nichtsdestotrotz gibt es noch genug gelungene Gags. Ob da die Übersetzer kreativ waren oder sich an den Ausgangstext gehalten haben, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.

Fazit

In einem Interview vor langer Zeit bezeichnete FUTAMI Shinji, einer der Hauptentwickler, Terranigma als „das ultimative SNES-Abenteuer“. Und meiner Meinung nach ist diese Aussage kein bisschen übertrieben. Obwohl dieses Spiel mittlerweile für viele in Vergessenheit geraten ist, trifft man immer noch in Foren und sonst im Internet immer wieder Leute, die es für eines der besten Spiele überhaupt halten. Denn nicht viele andere Titel bieten solch eine geniale Geschichte und vermögen es dermaßen, einen in den Bann zu ziehen wie Terranigma. Wer sich also nicht gerade als 3D-Junkie bezeichnen würde, sollte sich auf dieses unvergessliche Erlebnis schnellstmöglich einlassen! Hoffentlich lässt die Veröffentlichung für die Virtual Console nicht zu lange auf sich warten.

Gastauftritte in Terranigma Es gibt in diesem Spiel mehrere Frauen und Männer, die größtenteils auf realen Menschen basieren:

Deutsch Original Reales Vorbild

Sam Bell Alexander Graham Bell (1847-1922) – bekannt als Erfinder des Telefons

John Eddy Thomas Edison (1847-1931) – der vielleicht wichtigste Erfinder, u.a. des Phonographs und der Kohlenfadenlampe

Hedi Hedyn Sven Hedin (1865-1952) – großer Forschungsreisender; überquerte den Himalaja und hielt sich besonders in China und Tibet auf

Marcel Matis Henri Matisse (1869-1954) – französischer Maler und Grafiker

Sir Fitz Rich Wahrscheinlich erfunden; oder Anspielung auf den Self-Made- Millionär Richard Branson

Heinz Keinz John Maynard Keynes (1883-1946) – neben Milton Friedman der bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts

Will Will Wilbur Wright (1867-1912; Luftfahrtpionier) oder William Boeing (1881-1956; Gründer des Boeing-Konzerns)

Mary Marily keine Informationen (erfunden?)

Jürgen Mick Wohl eine Anspielung auf „Mc“(Donald’s)

Tom Stoma Wahrscheinlich nur Abkürzung des engl. Wortes „stomach“ (Magen)

Kolumbo Columbus Christopher Columbus (1451-1506) – ital. Seefahrer, gilt als Entdecker Amerikas

Tem-Jin Temjin Dschingis-Khan (1155-1227), eigtl. Temujin – mongolischer Eroberer

Erscheinungsjahr: 20.10.1995 (Japan) / 19.12.1996 (Europa)
Genre: Action-Adventure-RPG
System: Super Nintendo
Entwickler: Quintet
Hersteller: Enix
Kapazität: 32 Megabit

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Anime/Manga-Klubzeitschrift FUNime. Vielen Dank für die Unterstützung.

Alin Constantin

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