Viele Nintendo-Fans trauern bis heute dem Verlust der einstigen Edelschmiede
Rare im Jahre 2002 hinterher, rückten doch Fortsetzungen zu den
Nintendo64-Leistungsträgern Banjo Kazooie, Diddy Kong Racing oder Perfect Dark
in weite Ferne. Dass die einstige Spitzenfirma heute für Microsoft oftmals „nur“
noch gute bis sehr gute, aber kaum noch wegweisende Spiele produziert, hängt
auch mit der Tatsache zusammen, dass sich bereits vor der Übernahme durch
Microsoft namhafte Entwicklergrößen abgespalten hatten. Die Jungs um David Doak
namens Free Radical sind wohl die bekanntesten Erben von Rare. Sie waren es, die
mit der TimeSplitters-Serie auf dem GameCube Shooter im Gedenken an GoldenEye
007 erschaffen haben. Inzwischen wurde das Studio vom deutschen
„Crysis“-Entwickler Crytek übernommen. Doch neben David Doak gab es eine zweite
Entwicklerlegende bei Rare, die maßgeblich an GoldenEye und Perfect Dark
mitgewirkt hat: Martin Hollis. Nach einem kurzen Abstecher zu Nintendo of
America, wo er als Berater für den GameCube tätig war, gründete er sein eigenes
kleines Studio namens Zoonami. Während das sagenumwobene „GameZero“ inzwischen
für immer in der Mottenkiste verschwunden ist, wissen wir, dass Hollis keine
Lust mehr auf FPS hat und dort keine Weiterentwicklungsmöglichkeiten mehr sieht.
Entsprechend erprobt man in England nun neue Wege und mit Bonsai Barber geht man
tatsächlich einen ganz eigenwilligen Weg, exklusiv auf WiiWare.
Warum diese weit ausholende Einleitung bei einem Download-Spiel wie Bonsai
Barber? Nun, weil der Ursprung dieses Titels erläutert werden muss, um es
vollständig zu begreifen, denn selten hat man in den letzten Jahren so viel
„Rare“ in einem Spiel gefühlt wie hier. Dabei dreht sich hier wirklich gar
nichts ums Schießen. Der Spieler kommt als neuer Friseur in ein Dorf voller
Gemüsemenschen und wird vom freundlichen Kartolaf (bezeichnenderweise eine
Kartoffel mit Gesicht und Haaren) in den Berufsalltag eingewiesen. Doch erwartet
euch keine bierernste Simulation des Haartrimmerjobs, sodass ihr euch weder um
das finanzielle noch um irgendwelche Aufgaben abseits der eigentlichen
Kopfschmuckverschönerung sorgen müsst. Es geht einzig und allein darum, eure
Kunden zufrieden zu stellen und ihnen schöne Frisuren zu schnippeln. Pro Tag
bekommt ihr es mit maximal fünf Kunden zu tun, sodass die tägliche Spielzeit 30
Minuten kaum überschreiten wird. Das kann man wie bei Dr. Kawashima kritisieren,
muss man aber nicht, denn dadurch wird das Spielerlebnis für meine Begriffe
angenehm entzerrt, sodass man auch über Wochen Spaß mit dem Titel haben kann.
Sitzt nun ein Kunde auf dem Stuhl, bekommt ihr in der Regel eine sehr deutliche
Anweisung, welche Frisur ihr kreieren sollt. Ihr seht eine Vorlage, die ihr
möglichst originalgetreu nachempfinden sollt. Nur selten kommt es vor, dass ihr
aus eurem Repertoire selbstständig Schnitte auswählen müsst oder nach dezenten
Hinweisen („Ich habe Hunger auf was Süßes mit einem Loch in der Mitte!“ =
Donut-Frisur) einen Haarschnitt aussuchen müsst. Apropos Donut: Die Frisuren
sind allesamt ziemlich witzig und abgedreht. Sollt ihr zu Beginn noch einfache
geometrische Formen wie Quadrate, Dreiecke oder Kreise umsetzen, müsst ihr
später Segelschiffe, Glühbirnen, Fische oder T-Shirts aus den Haaren fertigen.
Damit euch das gelingen kann, steht euch gleich zu Beginn eine ganze Reihe an
Utensilien zur Verfügung. Die Schere ist dabei wohl euer Hauptwerkzeug. Ihr
bewegt sie mit dem Pointer und dreht sie ganz akkurat, indem ihr auch die
Wiimote dreht. Das ist auch bitter nötig, denn die Blätter-Äste-Kombination ist
so widerspenstig wie so manches Frauenhaar, zumal sich das Blattwerk der
einzelnen Charaktere zum Teil deutlich voneinander unterscheidet. Spätestens an
dieser Stelle fällt auch auf, dass Bonsai Barber kein reiner Kinderspaß ist. Es
geht nicht darum, die vorgegebene Form einfach auszuschneiden wie bei einem
Blatt Papier. Natürlich dürft ihr die Äste unten nicht einfach abschneiden, denn
dann fallen der komplette Ast und all seine Blätter ab. Manche Formen erfordern
aber genau das. Was also tun? Zwei Möglichkeiten bleiben euch: Nutzt den
Rasierer, um zwar die Blätter und kleinere Ästchen zu entfernen, aber tragende
Zweige zu erhalten oder aber ihr nehmt den Kamm zur Hand und bürstet das wilde
Durcheinander so zurecht, dass ihr überstehende Zweige nur noch bequem
abzuschneiden braucht. Habt ihr euch im Übrigen einmal verschnitten, ist auch
das kein Problem, denn mithilfe des Befeuchters wachsen Äste und Blätter im Nu
wieder nach, meistens allerdings etwas über die Grenzen hinaus. Einen Schnitt
direkt rückgängig machen, könnt ihr nicht.
Das Prozedere klingt unheimlich einfach und jeder Zuschauer hat nach wenigen
Sekunden verstanden, worum es geht. Allein die Meisterung dessen gestaltet sich
mit der Zeit zunehmend schwierig. Obwohl alle zentralen Werkzeuge gleich zu
Beginn verfügbar sind – was allgemein etwas schade ist -, steigt der
Schwierigkeitsgrad allein durch die unterschiedlichen Haarkonstitutionen der
Charaktere und die immer absurderen Frisuren angenehm an. Leider hat man es bei
der Kreuzung aus Banane und Trauerweide namens S. Pion etwas übertrieben. Gerade
seine Frisur ist durch den „Hänge“-Charakter seiner Zweige derartig verzwickt,
dass mir dort beim besten Willen keine 5-Sterne-Frisuren gelingen wollen. Damit
ist S. Pion gleich für zwei Aspekte von Bonsai Barber ein tolles Beispiel. Zum
einen besticht das Spiel einfach durch seinen unheimlichen Charme, den auch
schon frühere Spiele wie Banjo Kazooie so ausgestrahlt haben. Die Charaktere
sind herrlich witzig gemacht, faseln in ähnlicher Quäkesprache wie damals auf
dem Nintendo 64 und haben alle ihre ganz eigenen Geschichten. Der miesepetrige
Herr Stöckl muss nach London und hat keine Lust, will danach aber unbedingt eine
Glockenfrisur. Der gutmütige Kartolaf möchte dir nur immer helfen und der
eigenwillige S. Pion befindet sich auf Weltrettungsmission und braucht daher
unauffällige Frisuren wie beispielsweise einen Cowboy-Hut. Jeder Charakter ist
auf seine Weise einzigartig und wächst einem, wenn man so täglich seine Haare
schneidet, auch irgendwie ans Herz. Insofern geht das Spiel weit über das
eigentliche Geschicklichkeitskonzept hinaus und der Faktor „Rare“ drängt sich
unbewusst auf.
Auf der anderen Seiten zeigt S. Pion leider auch, dass das
5-Sterne-Wertungsprinzip manchmal so seine Tücken hat. Während die Sterne eins
bis vier in aller Regel bereits mit groben Annäherungen an die Vorlage erreicht
werden können, versteckt sich die optimale Wertung gerade bei farbigen Frisuren
allzu sehr. Denn richtig gehört, neben Schneiden, Kämmen und Rasieren könnt ihr
den kauzigen Wirrköpfen auch noch einen ganz persönlichen Anstrich verpassen.
Das ist einfach und sieht lustig aus, doch die Bewertungen hängen scheinbar viel
zu oft von Fortuna ab. Obwohl die Charaktere manchmal - ganz wie beim echten
Frisör – viel und gerne quatschen, geben sie dann doch viel zu selten (und bei
der Grenze von vier zu fünf Sternen gar nie) Hinweise, was man noch besser
machen könnte. Dann fragt man sich, ob denn nun die Umrisse nicht gut
geschnitten sind, aber zu viele Äste abstehen oder die Farben nicht im richtigen
Verhältnis verteilt wurden. Da hilft dann auch eine zweite, dritte oder vierte
helfende Hand kaum, die aber sonst jederzeit eingreifen kann. Der
Mehrspieler-Modus funktioniert dabei nach dem bekannten Prinzip auf der Wii: Man
schnappt sich einfach eine zweite Wiimote und darf agieren wie der erste Spieler
auch. Alle Funktionen und Utensilien stehen auch euch zu Verfügung und so kann
man sich an jede Frisur von zwei bis vier Seiten gleichzeitig heranwagen. Der
eine kann besser Schneiden, der andere besser Rasieren? Kein Problem. Die
Arbeitsteilung ist ganz einfach. Da es keinen gesonderten Modus dafür gibt,
teilt ihr euch auch gleich eure Erfolge und in Kooperation mit einem Freund oder
einer Freundin macht alles gleich noch einmal mehr Spaß. Zumindest zu zweit
funktioniert das tadellos, ob bei vier Spielern nicht doch zu viele Köche den
Brei verderben, liegt aber allein an euch und eurer Kommunikation.
Auch abseits des reinen Schneidens haben sich die Entwickler von Zoonami große
Mühe gegeben, dem Spiel noch ein paar Kuriositäten mitzugeben. Bei Manolo, dem
Modell-Mahagoni könnt ihr eure Schnittkunst trainieren, auch wenn die fünf Gäste
pro Tag schon bedient wurden. Die gelungene deutsche Übersetzung präsentiert
aber noch ein weiteres Alliterationswunder, mit dem ihr euch beschäftigen könnt:
Das Barbier-Betriebsbuch des Barbier Berufes offeriert euch alle Informationen,
die ihr braucht. Termine können festgelegt werden (bis zu drei pro Tag für die
kommende Woche), die Kunden werden vorgestellt und ihr habt den Überblick über
alles, was es zu erringen gibt. Da wären Auszeichnungen für besondere
Verdienste, geschossene Fotos (die auch an die Pinnwand gesendet werden können),
Postkarten der Charaktere, die sie euch aus ihren Urlauben gesendet haben, oder
Geschenke derer, die ihr gut bedient habt. Einige davon haben sogar lustige
Zusatzfunktionen. Der verrückte Professor R.D. Beere z.B. schenkt euch einen
Automaten, mit dem ihr alle Kunden kopfüber bedienen könnt. Bei der ein oder
anderen eigenwilligen Frisur kann das sogar von großem Nutzen sein. Überhaupt
passieren von Zeit zu Zeit seltsame Dinge, die die einzelnen Tage auch nach
Wochen noch spannend machen. Da fällt mal das Licht aus, da regnet und blitzt es
im Studio (wobei, sobald Regen auf die Blätter fällt, die Haare wachsen) oder
ärgern Spinnen eure Arbeit. So bleibt es zwar ärgerlich, dass ihr alle
Utensilien sofort besitzt und keine direkte Entwicklung durchmacht, aber die
Männer und Frauen von Zoonami haben sich alle Mühe gegeben, die einzelnen Tage
trotzdem immer wieder aufzufrischen und mit neuen Ereignissen zu versehen.
Insofern macht dann auch die Begrenzung der Spiellänge auf 15-30 Minuten (sofern
ihr nicht bei Manolo übt) Sinn. Nur so können die Entwickler garantieren, dass
auch im späteren Spielverlauf noch interessante neue Sachen passieren.
Die Technik ist bei all dem eigentlich schon zweitrangig, weiß aber dennoch zu
gefallen. Die Grafik ist in einem wunderbaren Comic-Stil gehalten, der sofort
ins Auge fällt und auch im Gedächtnis bleibt. Sicher sind die Hintergründe nicht
die aufwendigsten der Videospielgeschichte und Animationen braucht es bei Gemüse
auch nicht allzu viele, aber für ein Geschicklichkeitsspiel bietet die Optik
außergewöhnlich viel Charme. Da reiht sich der Sound direkt an. Jeder Charakter
hat eine eigene Melodie und allesamt sind sie gelungen. Zum Teil könnten sie
direkt aus Banjo Kazooie entsprungen sein, genau wie die teils nervigen, alles
in allem aber witzigen – dabei völlig unverständlichen – Brabbelkommentare eurer
Pflanzenfreunde.
Fazit:
Rare hat Nintendo noch nicht ganz verlassen. Wenn man bei einem Spiel bei „Otto,
dem Goldfisch“ speichern muss, im Anspann der Producer Martin Hollis als
„Gärtnermeister“ bezeichnet wird oder Satoru Iwata als Präsident von Nintendo
ein „Gutsverwalter“ ist, dann weiß man, dass man es mit einem durch und durch in
Liebe entwickeltem Spiel zu tun hat. Bonsai Barber revolutioniert nicht wie
einst GoldenEye 007 die Videospielwelt, aber es ist ein wunderschönes,
familiengerechtes Geschicklichkeitsspiel. Zoonamis Charmeoffensive ist leicht
zugänglich, später aber schwer zu meistern, und fühlt sich sowohl neu als auch
bekannt an. Dass man pro Tag nur fünf Kunden bedienen darf, ist eine inhaltliche
Entscheidung, die man nicht gut finden muss, sich aber hier rentiert, da man so
auch nach Wochen des Spielens noch neue Aspekte präsentiert bekommt, obwohl eine
richtiggehende Entwicklung der Fähigkeiten leider nicht stattfindet. So bleibt
als Kritikpunkt letztlich nur das teils etwas unfaire Bewertungssystem bestehen,
das doch scheinbar allzu willkürlich 5-Sterne-Wertungen verteilt – oder eben
auch nicht. Sicherlich führt der leichte Einstieg dazu, dass sich das Gameplay
früher oder später wiederholt, doch steckt das Spiel so voller Überraschungen
und das Kerngameplay bereitet so viel Freude, dass Bonsai Barber wirklich jedem
empfohlen werden kann, der keine Allergie gegen bunte Farben und Charme hat.
(Hendrik)
Pluspunkte:
+ verblüffend einfaches Konzept…
+ …mit angenehmer Spieltiefe
+ kooperativer Mehrspielermodus
+ Charmeoffensive
+ grafisch und musikalisch gelungen
+ neue Dinge auch nach längerer Spielzeit
+ viele Belohnungen
+ Bindung an Charaktere
Minuspunkte:
- Bewertungssystem teils nicht nachvollziehbar
- ungewohnt: begrenzte Spielzeit pro Tag
- letztlich relativ wenig Abwechslung im Gameplay
- alle Hilfsmittel sofort verfügbar
Wertung:
Einzelspieler: 8,5
Mehrspieler: 8,5
Screenshot 1
Screenshot 2
Preis:
1000 Nintendo Punkte
news@mag64.de
(10.09.2009)